WAS IST BEWUSSTES LIEBEN? |
Der Umgang mit Sexualität und Erotik ist in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten in der westlichen Welt zwar wesentlich offener und freier geworden - hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs hat sich allerdings nicht viel verändert.
Das Liebespiel, jede Berührung und Zärtlichkeit dient dem Ziel einen Orgasmus zu erreichen - und das möglichst für beide Partner. Das führt nicht selten zu eingespielten mechanischen Berührungen, Leistungsdruck und das Bestreben, es rasch hinter sich zu bringen. Nach nur durchschnittlich 11-17 Minuten ist das Liebesspiel - die intimste Begegnung zwischen einem Paar - schon wieder vorbei.
Ähnlich wie die Slow Food-Bewegung hat sich in letzter Zeit eine Slow Sex-Bewegung etabliert, mit dem Ziel, die körperliche Liebe bewusster zu erleben. Mit unseren Seminaren und Veröffentlichungen unterstützen wir sie.
Unser Ziel ist es, möglichst vielen Paaren zu vermitteln, wie sie das sexuelle Beisammensein entschleunigen, sich beim Liebesspiel entspannen und jeden Moment ganz bewusst erleben können.
Bewusster Sex ist eine Veränderung des Bewusstseins und der Sichtweise
Es gibt zwar beim bewussten Sex einige Techniken und Anleitungen, diese stehen aber nicht im Mittelpunkt. Es geht in erster Linie um die Änderung des Bewusstseins und der Sichtweise beim Sex. Es geht um das “wie” und nicht um das “was”.
Wir alle haben bestimmte Vorstellungen und Erwartungen, was beim Liebesspiel passieren soll. Meist sind sie geprägt von Erziehung, gesellschaftlichen Normen und zum großen Teil von Spielfilmen und (vor allem bei Männern) Pornos. So entstehen Vorstellungen wie: Sex hat immer etwas mit der Reibung von Geschlechtsorganen zu tun, Ziel ist immer der Orgasmus, 10 bis 20 Minuten Liebesspiel ist normal, ein Mann muss durchgehend erregt und eine Erektion haben, Frauen werden genauso stimuliert wie Männer usw.
Mit diesen Vorstellungen und Erwartungen ziehen jede Menge Leistungsdruck, Hektik, und Unbehagen in die Schlafzimmer ein. In jungen Beziehungen ist der Reiz des Neuen noch so stark, dass sich beide Partner gerne darauf einlassen. Je mehr Alltag jedoch in die Beziehung einkehrt, desto schneller und unachtsamer wird der Sex.
Mit der Entschleunigung kommt aber auch die Bewusstheit hinzu und mit der Bewusstheit die Achtsamkeit. SlowSex bietet Paaren die Möglichkeit, ihr Liebesleben neu zu erwecken, aus alten Gewohnheiten und Mustern auszusteigen, liebevoller und zufriedener zu werden.
Um einen möglichen Missverständnis vorzugreifen: es geht bei SlowSex nicht um Blümchensex oder - wie manche Männer vielleicht befürchten mögen -, um die Feminisierung der Sexualität. Es geht vielmehr darum, ganz Mann und ganz Frau zu sein. Mir meiner Wünsche und Erwartungen wirklich klar zu werden und diese bewusst umzusetzen. Wenn ich beispielsweise als Mann lerne, meine Ejakulation zu kontrollieren, dann habe ich mehr Wahlmöglichkeiten. Und … wenn der feurige Aspekt seinen Tribut zollt, ist gegen konventionellen Sex nichts einzuwenden. Sie werden aber feststellen, dass SlowSex einen Reiz hat, der sie immer wieder dazu zurückkehren lässt. Weil es eben keine Technik sondern eine innere Einstellung ist.
Die fünf Elemente des bewussten Liebens
Wir kennen und schätzen die Arbeit und die Bücher zum Thema Slow Sex von Diana Richardson und Nicole Daedone, sind aber der Ansicht, dass beide nur einen Aspekt des bewussten Liebens behandeln. Unser Ansatz geht mehr in die Breite und orientiert sich am Alltag in Paarbeziehungen. Deshalb stehen für uns die Paarübungen im Vordergrund, mit denen wir die Grundlagen des bewussten Sex vermitteln möchten.
Bewusstes Lieben, so wie wir es verstehen, ist ein harmonisches Zusammenspiel der folgenden fünf Elemente: Bewusstseinsveränderung, Entspannung, Achtsamkeit, Kommunikation und Wissen. In den folgenden Abschnitten geben wir einen kurzen Einblick in diese fünf Elemente, ausführlicher werden die Inhalte jeweils bei den Paarübungen vorgestellt.
1. Bewusstseinveränderung
Bewusstes Lieben erfordert einen Wandel hinsichtlich althergebrachter Vorstellungen über und Erwartungen an unser Liebesleben. Die Sexualkraft ist die stärkste Lebenskraft in unserem Körper. Sie kann Leben erschaffen und hat ein großes kreatives Potenzial. Wir müssen uns bewusst machen, dass unser Liebesspiel mehr ist als Erregung, Hitze, Stimulation und die Vereinigung von Geschlechtsteilen. Es ist ein energetischer Austausch von Polaritäten: Mann und Frau, positive und negative Ladungen, Yin und Yang.
Wir müssen verstehen, dass nicht der Orgasmus das Ziel ist, sondern das “orgasmisch sein” und dass beim Mann die Ejakulation nicht mit dem Orgasmus gleich gesetzt wird. Wenn Männer lernen, die Ejakulation vom Orgasmus abzutrennen behalten sie die sexuelle Lebensenergie für mehr Lebendigkeit im Körper - und öffnen sich der Möglichkeit von multiplen Orgasmen.
Wir müssen uns von dem Glauben verabschieden, dass der Koitus das einzig Wichtige und Erfüllende ist. Jede andere sexuelle Aktivität wird meist nur als Vorspiel für die Vereinigung angesehen. SlowSex ermöglicht es uns hingegen, Ganzkörperorgasmen ohne Penetration zu erleben.
Wir müssen die weitverbreitete Idealvorstellung ablegen, der Sex habe mit einem gemeinsamen Orgasmus zu enden. Die Erregungsrhythmen von Männern und Frauen sind dafür zu unterschiedlich. Diese Erwartungshaltung führt nur dazu, dass der Sex immer schneller und kürzer wird.
Wir müssen auch mit dem Irrglauben aufräumen, dass der Partner für meine sexuelle Lust verantwortlich ist. Sexueller Genuss findet im Kopf statt. Ich muss mich selbst dafür öffnen orgasmisch und lustvoll zu sein.
Wir müssen akzeptieren, dass sexuelle Erregung nicht einfach durch eine mechanische Abfolge vorgegebener Schritte erreicht wird, sondern dass eine Vielfalt von Faktoren mit hinein spielen. Ein Lingam wird nicht immer sofort errigiert, wenn er von einer Frau gestreichelt wird. Und eine Frau ist nicht immer sofort bereit für Sex, wenn ihre Brüste und die Klitoris vorher einige Minuten stimuliert werden.
Bewusstes Lieben ist vor allem eine geistige Neuorientierung: Weg von althergebrachten Glaubenssystemen, wie Sex zu funktionieren hat, und hin zu einem bewussten Umgang mit der sexuellen Energie und dem Einlassen auf den Augenblick.
2. Entspannung
Wie der englische Begriff “Slow” bei Slow Sex schon aussagt, ist Langsamkeit eines der zentralen Elemente des Bewussten Liebens. Und Langsamkeit ist nur möglich durch Entspannung.
Die meisten Menschen erleben Sex mit einem Gefühl der Anspannung: ein hoher Erregungslevel, schnelles Atmen, Stöhnen, heftige Bewegungen. Diese Anspannung kann aber auch mit Leistungs- und Erfolgsdruck einhergehen.
Vielen Männern ist nicht bewusst, dass eine Erektion nur im entspannten Zustand möglich ist. Das gleiche gilt für die Ejakulationskontrolle. Die häufigsten Gründe für vorzeitige Ejakulation sind deshalb zu viel Stress und Anspannung, Leistungs- und Erfolgsdruck.
Sobald wir entspannen und langsamer werden, erhöht sich unsere Sensibilität für die Wahrnehmung von Nuancen und subtileren Empfindungen. Schneller heißer Sex ist im ersten Augenblick zwar scheinbar befriedigender, aber er desensibilisiert unseren Körper und unseren Geist.
Ein entscheidendes Merkmal des Bewussten Liebens ist die Zeitdauer des Liebesspiels. Je nach Studie dauert der konventionelle Sex im Durchschnitt 10 bis 17 Minuten, mit Vorspiel etwa eine halbe Stunde. Beim Bewussten Lieben reden wir dagegen nicht von Minuten, sondern von Stunden - und das bei völliger Entspannung und tiefer Hingabe. Wir empfehlen Ihnen für eine Bewusstes Lieben-Begegnung mindestens drei Stunden Zeit einzuplanen, um wirklich in die Entspannung zu kommen ohne von äußeren Umständen gestört zu werden.
Im Gegensatz zum “heißen” konventionellen Sex, ist Bewusstes Lieben “kühler” Sex. Beim Tantra spricht man auch vom “Talorgasmus” im Gegensatz zum Gipfelorgasmus. Bei letzterem wird die Sexualenergie immer weiter angefeuert, bis man sie auf dem Gipfel explosionsartig entlädt. Beim Talorgamus führt die sexuelle Erregung bis zu einem gewissen Erregungsniveau auf dem man dann “die Welle der Extase reitet”. Die Erregungskurve steigt und fällt und mit etwas Übung können auch Männer Multiorgasmen ohne Ejakulation erleben.
Überhaupt ermöglicht Bewusstes Lieben Männern eine außergewöhnliche Erfahrung zu machen: Die sexuelle Energie über längere Zeit zu halten und selbst zu entscheiden, wann und ob sie ejakulieren möchten. Die meisten Männer erleben sich abgetrennt von Ihrem Penis. Im Klartext: “Er macht einfach was er will”. Mit dem Bewussten Lieben lernt der Mann, die Kontrolle über seine Lust wieder zu übernehmen.
Wie wir bei den Übungen noch ausführlich erläutern werden, gibt es zwei Methoden, die beim Bewussten Lieben sehr hilfreich sind: Langsames tiefes Atmen und Beckenbodenentspannung. Das langsame und tiefe Atmen ermöglicht es uns, tiefer zu fühlen und eine Verbindung zwischen Körper und Gefühlswelt herzustellen. Die Entspannung des Beckenbodens ist zum Einen Grundvoraussetzung für entspannten Sex. Zum Anderen kann der Beckenbodenmuskel (PC-Muskel) für die Ejakulationskontrolle beim Mann eingesetzt werden.
Wenn Sie jetzt bei der Kombination von Entspannung und Sex an Eintönigkeit und Langeweile denken, liegen Sie vollkommen falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Mit bewusstem Lieben überwinden Sie alte Gewohnheiten und Muster, steigen aus Wiederholungen und Mechanismen aus und werden eine neue Kreativität beim Sex entdecken.
3. Achtsamkeit
Achtsamkeit und Bewusstheit ist das eigentliche Geheimnis des bewussten Liebens. Auf der Jagd nach dem Orgasmus geht beides oft verloren. Erst durch die bewusste Achtsamkeit auf alle Berührungen, Empfindungen und Erregungslevel kann ich ganz in das Geschehen eintauchen und die sexuelle Energie genießen.
Die Achtsamkeit beim bewussten Lieben hat zwei Seiten: Zum einen die Wahrnehmung des eigenen Körpers, um ganz bei mir anzukommen. Zum anderen die hundertprozentige Aufmerksamkeit auf jede Berührung, jedes Streicheln und jede Stimulierung bei meinen Partner/meiner Partnerin.
Aus der Meditationspraxis wissen wir, dass die Energie dorthin fließt, wo meine Aufmerksamkeit ist. Wenn ich mir bewusst bin, dass beim Liebesspiel sehr viel sexuelle Energie fließt, die ich mit meinen Händen und der entsprechenden Aufmerksamkeit beeinflussen kann, sind ganz neue Dimensionen der Begegnung denkbar.
Viele Paare haben Sex, ohne dass sie wirklich bewusst ihre Sinneseindrücke wahrnehmen. Die ganze Aufmerksamkeit ist dem Höhepunkt am Ende gewidmet statt den Gefühlen und sinnlichen Wahrnehmungen auf dem Weg dorthin.
Beim bewussten Lieben ersetzt die Achtsamkeit das Ziel des Orgasmus. Durch das bewusste Wahrnehmen und Wertschätzen dessen was gerade passiert, kann ich mich ganz in den sexuellen Genuss entspannen und eine tiefere Verbindung zu meinem Partner/meiner Partnerin aufnehmen. Es entsteht eine Verbindung von Herz und Sexualität.
4. Kommunikation
Beim bewussten Lieben stellen wir uns immer wieder die Frage: Was tut mir gut und was tut meinem Partner/meiner Partnerin gut. Und da jeder für sein eigenes Lustempfinden selbst verantwortlich ist, muss ich mitteilen, was meine Erwartungen und Wünsche sind.
Kommunikation beim bewussten Lieben beginnt damit, den Partner/die Partnerin zum Liebespiel oder einem Magic Moment einzuladen. Dabei geht es darum, zu den eigenen Wünschen zu stehen und Schritte zur Umsetzung einzuleiten.
Kommunikation hat auch damit zu tun, während des Liebespiels gerade vorhandene Gefühle und Erlebnisse auszudrücken - über Worte, Laute, Bewegungen usw. In vielen langjährigen Partnerschaften wird kaum über Sex und die eigenen Wünsche gesprochen - oft aus Scham oder aus Angst den anderen zu verletzen oder zu überfordern. Es scheint so, als ob das Reden über Sex intimer wäre, als der Sexualakt selbst. Und das ist meist auch so. Wenn ich über meine Wünsche, Erwartungen und Gefühle rede, muss ich mich öffnen und mache mich verletzbar. Kommunikation in all seinen Formen ist deshalb ein wichtiges Element des bewussten Liebens.
Manchmal reicht nur ein kleine Information an den Partner/die Partnerin aus, um Missverständnisse aus der Welt zu schaffen oder bisher geheime Wünsche wahr werden zu lassen.
5. Wissen
Wir sind immer wieder überrascht, wieviel Wissenslücken beim Thema Sex bestehen. Wir nehmen uns davon nicht aus und lernen jeden Tag hinzu. In unserer Gesellschaft gibt es im Gegensatz zu naturorientierten Kulturen keine Tradition, die die Sexualität lehrt (der Sexualkunde-Unterricht beschränkt sich meist auf die funktionale Ebene und die Darstellung des herkömmlichen Sex). Diese Aufgabe müssen bei uns Sachbücher, Magazine, Filme - und wenn wir Glück haben - andere Menschen mit entsprechender Erfahrung übernehmen. Vielleicht kann die SlowSex-Bewegung ihren Beitrag dazu leisten.
Wenn wir uns mit bewusstem Lieben beschäftigen, lernen wir jeden Tag etwas Neues, erfahren von anderen Sichtweisen und erhalten Informationen, die Aha-Erlebnisse auslösen können. Da das Erleben einprägsamer ist als das Lesen oder Hören, liefern wir die Hintergrundinformationen jeweils mit den einzelnen Übungen und geben hier nur einen kleinen Überblick:
- Die sexuelle Intelligenz unserer Körpers und die Weisheit unserer Genitalien erkennen und ihnen die Führung geben.
- Die taoistische Vorstellung von der Kraft des Samens kennen lernen und warum das Zurückhalten der Ejakulation den Mann stärkt.
- Verstehen, welche Rolle die Polarität von Mann und Frau und die unterschiedlichen Potenziale von Penis und Vagina spielen und welchen Einfluss sie auf die Lebenskraft haben.
- Die männlich-dynamische und die weiblich-rezeptive Kraft wahrzunehmen, wertzuschätzen und auszuleben.
- Die unterschiedlichen sexuellen Rhythmen von Männern und Frauen akzeptieren und auf sie eingehen.
- Sicherheit beim Anfassen, Berühren, Massieren, Streicheln und Stimulieren erhalten.
- Wissen, wie mein Körper und der meines Partners/meiner Partnerin reagiert und funktioniert.
- Viele Wahlmöglichkeiten, Tipps und Anleitungen erhalten, aus denen ich nach Bedarf schöpfen kann.
Bewusstes Lieben kann ihr Liebesleben bereichern
Wir haben eingangs schon erwähnt, dass bewusstes Lieben nur in geringem Maße eine Technik ist, sondern vielmehr eine Änderung der Einstellung. Wir möchten Sie gerne dazu ermuntern, einige der Paarübungen auszuprobieren, um selbst zu spüren, ob bewusstes Lieben Ihr Liebesleben bereichern kann. Sehen Sie es einfach als Variationsmöglichkeit für Ihr Sexualleben.
Was kann bewusstes Lieben Ihnen bringen? Mehr Verbundenheit mit dem Partner. Eine liebevollere, harmonischere und erfüllendere Beziehung. Ankommen im eigenen Körper und gesteigerte Selbstliebe. Sich ganz als Mann und sich ganz als Frau fühlen.
… und manchmal ist es einfach toll, in den feurigen Sex einzutauchen. Entscheidend ist, dass Sie alles, was Sie tun, bewusst tun. Gegen einen Orgasmus ist nichts einzuwenden; problematisch ist es, wenn man dem Orgasmus und dem Spannungsaufbau hinterher läuft.
Verwendete Begriffe
Im deutschen Sprachgebrauch gibt leider kaum wertschätzende Begriffe für Geschlechtsorgane oder anderen Benennungen in der Sexualität. Aber wir sind der Meinung, dass man nur zu Körperteilen, die man gut benennen kann, eine Beziehung aufbauen kann. Deshalb verwenden wir teilweise Wörter aus dem tantrischen Sprachgebrauch (Sanskrit) oder tauschen Wörter aus.
Lingam - Penis
Yoni - Scheide
Vereinigung - Koitus
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